Beitragvon Rossi » 25.05.2009, 18:28
Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Bei den privat versicherten ALG-II-Empfängern und Sozialgeldempfängern besteht in der Tat eine Regelungslücke. Dies hat die SPD-Fraktion auch frühzeitig erkannt. Allerdings konnte hier mit dem Koalitionspartner noch keine befriedigende Lösung erreicht werden. Der Antrag der Linken greift hier aber dennoch deutlich zu kurz. Das grundlegende Problem unseres Gesundheitssystems ist nicht die finanzielle Überforderung privat versicherter Arbeitsloser, sondern die willkürliche Zweiteilung des Krankenversicherungssystems in gesetzliche und private Kassen mit der Konsequenz einer zunehmenden Zweiklassenmedizin.
Ein gesetzlich Versicherter mit einem Höchstbeitrag von 550 Euro im Monat zahlt davon circa 250 Euro für die Krankenversicherung der Einkommensschwachen. Wechselt er in die private Krankenversicherung, muss er dies nicht mehr bezahlen, weil die private Krankenversicherung am Finanzausgleich der Krankenkassen zwischen gering Verdienenden und gut Verdienenden nicht teilnimmt. Nur aus diesem Grunde können die privaten Krankenversicherungen trotz höherer Honorare für die Ärzte und mehr als doppelt so hohen Verwaltungsausgaben billiger als die gesetzlichen Kassen sein. Wer bei hohem Einkommen gesetzlich versichert bleibt, zahlt nicht nur mehr, sondern muss dazu beim Arztbesuch warten, bis der privat Versicherte behandelt wurde, leistet dann die Praxisgebühr und zahlt selbst für ein Arzneimittel im Wert von zehn Euro fünf Euro beim Apotheker dazu. Über die Jahrzehnte zahlt er mehrere Hunderttausend Euro Beitrag. Wird er dann krank, steht ihm die Privatsprechstunde eines Universitätsprofessors nicht zu, der dagegen den privat versicherten Studenten empfängt.
Dieses System ist mittlerweile nicht nur einzigartig in Europa, sondern auch einzigartig ungerecht. In Zukunft müssen wir sicherstellen, dass alle Bürger einen Solidarbeitrag zur Gesundheitsversorgung leisten und umgekehrt Anspruch auf die Solidarität der Gesellschaft haben. Alle Bürger sollen die Pflicht zur Versicherung haben und einkommensabhängige Beiträge bis zur Beitragsbemessungsgrenze zahlen, die an den Gesundheitsfonds abgeführt werden, wobei zu prüfen ist, ob die Beitragsbemessungsgrenze angehoben wird. Einer Versicherungspflichtgrenze bedarf es dann nicht mehr. Die Pflicht zur Versicherung sollte sowohl bei gesetzlichen Krankenkassen als auch bei privaten Krankenversicherungsunternehmen realisiert werden können. In dieser neuen Pflichtversicherung sollte Kontrahierungszwang herrschen, und Risikozuschläge sollten unzulässig sein. Alle Krankenversicherer, die die Pflichtversicherung durchführen, erhalten dann pauschalierte Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich.
Nur auf dieser Grundlage eines einheitlichen Versicherungssystems können wir auch die Lösung der weiteren zentralen Probleme, die unser Gesundheitssystem leider prägen und eine gute medizinische Versorgung für die Menschen in Deutschland gefährden, angehen.
Denn das deutsche Gesundheitssystem ist leider insgesamt schlechter als sein Ruf: in der Welt hoch angesehen wegen seiner Solidarität zwischen den Versicherten und wegen der hohen Qualität der Ärzte, Pfleger und der Einrichtungen. In Wahrheit allerdings verschärft sich die Zweiklassenmedizin immer mehr, was jeder gesetzlich Versicherte – und das sind 90 Prozent der Bevölkerung – am eigenen Leib spürt. Im Vergleich zu privat Versicherten müssen gesetzlich Versicherte dreimal so lange beim niedergelassenen Facharzt warten, und das auch bei wichtigen diagnostischen Leistungen, die für die Abklärung einer ernsthaften Erkrankung notwendig sind. Aber auch wenn er einen Termin bekommt, ist eine adäquate Versorgung keineswegs gewährleistet. Auch wenn die Beitragszahler so viel Geld wie in kaum einem anderen Land für die medizinische Versorgung bereitstellen, ist die Qualität meist nur Mittelmaß.
Mehrere Ursachen führen zu diesem Befund: Erstens ist unser ganzes System zu wenig auf Vorbeugemedizin ausgerichtet. Über 95 Prozent unserer Gesundheitsausgaben gehen in die rein kurative Versorgung. Dabei ist es mittlerweile wissenschaftlich gesichert, dass rund 80 Prozent aller Krankheitsfälle durch eine bessere Vorbeugung vermieden, aufgeschoben oder gelindert werden können.
Zweitens. Uns gehen die Hausärzte aus. Wir haben zwar immer noch eine hohe Ärztedichte, aber leider nicht mehr bei den Hausärzten. In kaum einem anderen Land gibt es so viele Fachärzte pro Hausarzt, nämlich zweieinhalb Mal so viel, wie in Deutschland. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Hausärzte jedes Jahr weiter ab. Das ist besonders bitter, weil die Hausärzte diejenigen wären, die verstärkt die Vorbeugemedizin anbieten könnten, weil sie oft ihre Patienten über lange Zeiträume hinweg versorgen.
Drittens. Die einzelnen Akteure arbeiten nicht gut genug zusammen. Kein Gesundheitssystem der Welt trennt so streng die Aufgaben der Krankenhäuser von den Aufgaben der niedergelassenen Ärzte wie unseres. Für die schweren Fälle ist das Krankenhaus zuständig, für die leichten der niedergelassene Hausarzt. Erschwerend kommt noch hinzu, dass wir eines der wenigen Länder sind, das Fachärzte sowohl in der Praxis als auch im Krankenhaus vorhält. So kommt es, dass in vielen Fällen die niedergelassenen Fachärzte sogar mit den Klinikärzten um denselben Patienten konkurrieren anstatt zu kooperieren.
Viertens. Die Fortbildung unserer Ärzte ist zu schlecht organisiert und zu gering vergütet. In kaum einer Disziplin ist der Fortschritt so rasant wie in der Medizin. Täglich erscheinen Hunderte medizinische Studien. Es gibt mehrere Zehntausend medizinische Fachzeitschriften. Ein Allgemeinarzt müsste jeden Tag 17 Artikel lesen, um sich über die in seinem Fachgebiet gewonnenen Erkenntnisse zu informieren. Die jetzt vorgeschriebene ärztliche Fortbildung wird meistens von der Pharmaindustrie gesponsert und ist mit einfachsten Anforderungen im Internet zu bewältigen. Das System belohnt Ärzte, die es sich so einfach wie möglich machen, und bestraft diejenigen, die viel Geld und Zeit in ihre Fortbildung investieren.
Fünftens. Wir haben zwar viele Fachärzte, aber wenig Spezialisten. Ein Facharzt für Chirurgie beispielsweise, der auch Knieverletzungen operiert, ist längst noch kein Meniskusspezialist. Daher kommen bei uns für viele Krankheiten mehr Fachärzte, aber weniger Spezialisten auf 1 000 Einwohner als in anderen Ländern. Dies ist eine direkte Folge des falschen Honorarsystems, in dem eine konsequente Spezialisierung für viele Fachärzte das wirtschaftliche Aus bedeutet hätte. So kommt es, dass die wenigen Spezialisten in Deutschland vorwiegend privat Versicherte behandeln, weil sie dort ein höheres Honorar generieren können. Das Nachsehen hat auch hier die große Mehrheit der gesetzlich Versicherten, die entweder gar nicht beim Spezialisten drankommt oder sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen muss.
Die Lösung dieser Probleme hat die SPD in ihrem Programm vorgelegt. Das werden wir in der Wahlauseinandersetzung deutlich machen, und das werden wir auch nach der Wahl umsetzen.
Wir brauchen einen dritten Weg jenseits von Marktradikalisierung und Staatsmedizin. Das zentrale Anliegen dabei muss die Überwindung des zweigeteilten Versicherungssystems sein. Wir brauchen eine Versicherung von allen, von allem für alle. Damit einher geht auch eine einheitliche Gebührenordnung für privat wie gesetzlich Versicherte gleichermaßen. Dies wäre der wirkungsvollste Ansatz im Kampf gegen die Zweiklassenmedizin. Die Kliniken sollten stärker als bisher für die ambulante Versorgung geöffnet werden. Auch hier sollte eine einheitliche Gebührenordnung für niedergelassene Fachärzte und Kliniken gelten. In diesem Fall belebt Konkurrenz nicht nur das Geschäft; die stärkere Öffnung der Krankenhäuser kann auch zu mehr Kooperation und damit zu einer Qualitätssteigerung führen.
Wir müssen Hausärzte deutlich besser bezahlen als heute. Heute ist es so, dass diejenigen Ärzte am meisten verdienen, die kaum einmal einen Patienten lebend oder am Stück zu Gesicht bekommen, wie Pathologen oder Laborärzte. Die Hausärzte hingegen waren in den letzten beiden Jahrzehnten fast immer die Verlierer bei den innerärztlichen Honorarverteilungskonflikten. So kommt es, dass heutzutage ein Hausarzt nur noch die Hälfte dessen verdient wie beispielsweise ein Röntgenarzt. Eine bessere Honorierung der Hausärzte, die diesen Beruf wieder so attraktiv macht, wie er es verdient, ist auch der Schlüssel zu mehr Vorbeugemedizin.
Der dritte Weg in der Gesundheitspolitik wäre in der Tat der beste, würde man ihn auch konsequent gehen. Er verbindet die Vorteile des Marktes mit denen eines starken Sozialstaates. Die Rolle des Marktes ist es dabei, Innovation und Wirtschaftlichkeit zu stützen. Dazu muss der Verbraucher gestärkt werden. Weil er ohne Hilfe nicht erkennen kann, was echte Innovationen sind und was nur als Innovation verkauft wird, müssen die Krankenkassen und die Verbraucherschützer die Qualität der Tätigkeit von Ärzten und Kliniken auswerten und öffentlich machen. Ärzte müssen ohne Einfluss der Pharmalobby fortgebildet und nach der Qualität ihrer Leistungen honoriert werden, nicht nach der Zahl der Privatpatienten.
Zum besseren Wettbewerb gehört auch eine bessere Bezahlung von Vorbeugeleistungen, die besonders von Hausärzten angeboten werden. Es ist unsinnig, die Vorbeugung zu vernachlässigen, nur um unser Überangebot an Fachärzten auszulasten. Daher müssen die Wettbewerbsbedingungen so geändert werden, dass man mit dem Erhalt der Gesundheit so gut verdienen kann wie mit ihrer Wiederherstellung.
Eine gute Gesundheitspolitik kann dafür sorgen, dass alle, ob arm oder reich, von einem Gesundheitssystem, das sich durch Qualität und Wirtschaftlichkeit auszeichnet, profitieren. Sie muss garantieren, dass genug Geld in die Aus- und Weiterbildung von Ärzten fließt, und die Forschung in Deutschland gezielt fördern. Dann könnte das deutsche Gesundheitssystem international an die Spitze zurückkehren. Das Potenzial dafür hat Deutschland, und die Bürger werden in den kommenden Jahren die Politik unterstützen, die dafür sorgt, dass dieses Potenzial endlich ausgeschöpft wird. Sie können sicher sein, dass die SPD genau diese Politik vertritt und gestalten wird.